Frühmorgens werden wir vom keuchenden Nachtzug auf die Bukarester Strasse gespuckt. So fühlt es sich zumindest an. Die rumänische Hauptstadt (București) gähnt uns in der Morgendämmerung abweisend entgegen. Zwischen aufgerissenen Strassen, Autos die quer auf dem Bürgersteig parkiert sind und wilden Hunden bahnen wir uns den Weg zum Hostel Butterfly. Nach einem weiteren Spiessrutenlauf durch den Verkehr von Bukarest in die Schweizer Botschaft halten wir endlich unsere Pässe in den Händen. Mit unseren Eintrittstickets für Zentralasien und China in der Tasche setzen wir uns in einen nahegelegenen Park. Dort entdecken wir einen gratis Fahrradverleih, schnappen uns zwei Räder und beschliessen, dass die Stadt doch nicht so unfreundlich ist, wie sie uns vorerst schien. Vergnügt radeln wir durch den Park, schlängeln uns an Spaziergängern und Kinderwägen vorbei und stossen auf einen See. Unser beschwingtes Radeln steigert sich allmählich in Übermut – und die tut bekanntlich selten gut. Marlene landet am Boden und Urs ist beschähmt, dass er sie durchs Filmen abgelenkt hat. Leicht lädiert trampeln wir weiter und landen – passend zu unserer Stimmung – beinahe in der nächsten Baustelle. Der gut ausgebaute Radweg um den See bricht hier aprupt ab und wir finden uns irgendwo zwischen Autostrasse und Roma-Baracken wieder. Erschöpft beschliessen wir, uns einen gemütlichen Hostelabend zu machen und die rumänische Hauptstadt am nächsten Tag ausführlich zu erkundigen.
In den kommenden Tagen müssen wir aber feststellen, dass wir am ersten Tag die schönste Ecke der Hauptstadt entdeckt haben. Wo wir auch hingehen, die Stadt erscheint uns lieblos und anstrengend. In der Altstadt gibts zwar – wie es sich für eine Alstadt gehört – alte Bauten, englische Beschilderungen, reihenweise Strassenkaffees und sogar ausländische Touristen, aber das kleine Altstadtquartier wirkt gekünstelt. Viel zu gross ist der Kontrast zum Rest der Stadt. Um es in einem Begriff zu fassen: Baustelle. Wo man auch hin schaut offene Löcher und fensterlose Hochhäuser. Die monumentalen Protzbauten Nicolae Ceaușescus sind die Krönung davon. In seinem Grössenwahnsinn hat der ehemalige Präsident während der 70er Jahre Häuser mit rund 40000 Wohneinheiten abgerissen und sie mit dem seinem „Haus des Volkes“ (heutiger Name: Parlamentspalast) ersetzt. Der Anblick des Gebäudes, welches eines der grössten der Welt sein soll und nur mit einem enormen möglich war, ist erdrückend. Auch Ceaușescus „Boulevard des Sieges des Sozialismus“ (heutiger Name: Boulevard der Einheit) wertet die Sicht nicht auf. Am Ende des Boulevards ragen riesige Wohnblöcke gegen den Himmel. Auch die „Coca Cola“-“H&M-“ und „MC Donalds-schilder“ zuoberst auf den Dächern können das sozialistische Erbe der Stadt nicht überragen.
Als wir uns bei einem Spielplatz die Eindrücke etwas verdauen wollen stapft uns gleich ein Parkbeamter entgegen und weist vehement auf ein Schild am Rande des Platzes. Da steht ein EU-zertifiziertes Schild, dass nach EU-Norm dieser Platz nur für Kinder zwischen 4 und 10 Jahren gedacht ist. Jetzt wissen wir endlich wozu die Beamten da sind, die am Rande von öffentlichen Plätzen in ihren Kabäusschen hocken. Sie bewachen die hochgeachteten EU Normen. Normiert die EU auch das Denken und Handeln dieser Menschen? Nach europäischer Offenheit suchen wir vergeblich. Urs braucht einen ganzen Morgen um die ungarischen Geldscheine im Wert von 10 Euro in Rumänische Währung umzutauschen. Nachdem er x Wechselstuben abgeklappert hat erhält er bei der fünften Bank ein zwei-seitiges Dokument mit Passkopie, Unterschriften und handgeschriebenem Beleg, dass die 10 Euro umgetauscht worden sind. Hier scheint alles nur mit umständlichster Bürokratie zu funktionieren. Das Land, oder besser diese Stadt, muss sich erst aus seinem sozialistischen Erbe ausgraben, meint ein rumänischer Schriftsteller, den wir beim Frühstück treffen. Die Strassenverhältnisse spiegeln scheinbar nur das wieder, was seit dem Fall des eisernen Vorhangs mit dieser Stadt passiert ist. Oberflächlich wird saniert, Politiker und Beamte werden ausgetauscht. Das Fundament, der klotzige Baustil und die korrupten Drahtzieher im Hintergrund, bleiben jedoch dieselben.
Wir sind uns bewusst, dass wir mit den beiden rumänischen Städten nur einen ersten Einblick in das Land bekommen haben und beschliessen, irgendwann einmal mit eigenem Fahrzeug die rumänische Landschaft zu entdecken. Für den Moment genügt es uns aber. An der Schwarzmeerküste von Bulgarien, wo wir ursprünglich hinwollten, regnet es und in Sophia gab es am vorhergehenden Tag ein Erdbeben. Als wir erfahren, dass es einen direkten Nachtbus in die Türkei gibt, enscheiden wir kurzerhand: Istanbul direkt.