Gestärkt vom reichhaltigen türkischen Frühstück mit Ei, Gurke, Tomate, Feta und Bretzel schultern wir frühmorgens unsere Rucksäcke in Safranbolu. Obwohl wir uns die Busverbindungen genau aufgeschrieben haben, gelangen wir nur dank der unglaublichen Hup-Kommunikation der Busfahrer an den richtigen Ort: Begleitet von regem Gehupe werden wir bei einem Busfahrer rausgelassen und gleich an den Nächsten weitergereicht.
Die Strecke von Karabük nach Yenice führt durch eine spektakuläre Landschaft. Wir sehen auf tiefe Schluchten und an Berge und ahnen, dass uns die Landschaft nicht enttäuschen wird. Als wir laut ankündigen, dass wir beim “Şeker Kanyonu” rausgelassen werden worden, geht ein allgemeines „Aha“ und Nicken durch den Bus. Jetzt kann man uns einordnen und nachvollziehen, was wir mit grossen Rucksäcken, Zelt und Wanderstöcken vorhaben.
Die Landschaft enttäuscht tatsächlich nicht, unser Weg führt einem wunderschön glitzernden Flusstal entlang. Die im Wanderführer angepriesenen unberührten Pfade entpuppen sich jedoch als gut ausgebaute Forststrassen. Zweimal werden wir von Taxis überholt und immer wieder treffen wir Forstarbeiter oder deren Hinterlassenschaften am Wegrand. Wir versuchen darüber hinwegzuschauen (im wahrsten Sinne des Wortes), erfreuen uns an der Landschaft und motivieren uns mit der Hoffnung, dass die Strasse irgendeinmal in die im Wanderführer versprochenen 396km Wanderwege mündet.
Die Hoffnung stirbt zuletzt oder zumindest spät. Als wir auch am zweiten Tag auf breiter Forststrasse gehen ahnen wir, dass sich unser Verständnis von Wanderwegen von den Bezeichnungen im Führer deutlich unterscheidet. Der vielseitige Wald und das Plätschern der vielen Bäche treibt uns an, die knapp tausend Höhenmeter zum Bergsee hochzugehen. Oder genauer gesagt; dahin zu gehen, wo der See sein sollte. Als wir erfreut den höchsten Punkt unserer Tour erreichen, von wo aus wir auf den See sehen sollten, blicken wir mit Enttäuschung in eine von Trackspuren durchzogene Sumpfebene.
Fest entschlossen, den See zu zu finden, macht sich Marlene mit GPS auf die Suche und kommt verwirrt zurück. Nachdem Urs eine weitere Suchaktion unternimmt und wir dann zusammen Karte und Umgebung nochmals genau studieren, dämmert es uns. Nicht Karte und GPS sondern die Forstarbeiter haben uns einen Streich gespielt. Zur absoluten Sicherheit gehen wir zum nächsten Hügel wo wir verrostete Schaukeln und Überreste von Berghütten vorfinden. Als wir von hier aus zur Senke hinunterschauen wissen wir es: Den See gibt es nicht mehr.
Wir können es kaum fassen und schauen auf das Impressum des Wanderführers: „This is a publication of Karabük Governorship, 2010, Turkey“ steht hier in fetten Buchstaben. Wir beschliessen, diesen Governor über seine Forstarbeiter aufzuklären. Gerne würden wir unsere, vor Anstrengung und Unverständnis glühenden Köpfe nun im See abkühlen. Doch diesen gibts nicht mehr! Wir trösten uns mit der Gewissheit, dass der Fluss im Tal wohl nicht so schnell von menschlicher Hand zerstört werden kann. Dieser wird auch am nächsten Tag noch fliessen und uns ein kühles Bad bieten.
Als hätten wir nicht schon genug Aufregung. bewegt sich eine weitere Überraschung auf uns zu. Unter Glockengebimmel nähert sich die Kuhherde, die eben noch zwei Hügel neben uns gegrasst hat. Bei näherer Betrachtung entpuppen sich die Kühe als Stiere. Als offensichtlich wird, dass sie unser Plätzchen als nächste Weide anvisiert haben, werden wir schon etwas nervös. Marlene flüchtet mit Kocher auf den erhöhten Holzboden einer ehemaligen Berghütte und räumt geistesgegenwärtig die rote Schlafmatte weg. Urs macht (wohl etwas geistesgegenwärtiger) ein Foto von unserem Zelt für die Versicherung. Die Stiere riechen an all unserem Hab und Gut. Da ein behornter Stier, der am Zelt riecht, schon ein gewisses Risiko für unser mobiles Zuhause darstellt, verlagern wir dieses kurzentschlossen zu Marlene auf den sicheren Holzboden. Dort können wir die Stiere aus sicherer Distanz beobachten, unser Nachtessen geniessen und, als sie endlich abziehen, unser Nachtlager aufbauen.
Als wir nach viertägiger Wanderung die Freizeitanlage am Ausganspunkt unserer Tour erreichen, merken wir, dass wir mit unserer Unternehmung in dieser Gegend wohl schon zu den Exoten zählen. Obwohl wir an diesem Sonntag auch vereinzelten Wanderern und Bikern begegnet sind, bieten wir einen offenbar einen ungewohnten Anblick. So ungewohnt, dass wir einer muslimischen Ausflugsgruppe gleich zum Fotomotiv werden. Die mit Kopftuch bedeckten Frauen, zupfen kritisch an Marlenes funktionalem T-shirt und reden aufgebracht auf sie ein, bis sie merken, dass wir kein Wort von ihrem Türkisch verstehen. Und von türkischen Sinn fürs Wandern erst recht nicht.