Etwas über dreihundert Kilometer Küstenstrasse liegen vor uns – eine spektakuläre Strecke die mit dem hiesigen öffentlichen Verkehr nur in zwei Tagen und mit drei Umstiegen zu meistern ist. Der hiesige Verkehr heisst Dolmusch – Kleinbusse welche auf Zuwinken halten – und wir sind froh, dass wir in den letzten Tagen einen Einblick in die ungeschriebenen Verhaltensregeln erhalten haben. Marlene wird es schon in der zweiten Kurve etwas mulmig in der Magengegend. Trotzdem verfolgen wir aufmerksam mit, wie sich die Fahrgäste verlagern um rechtzeitig einspringen, beziehungsweise wegsitzen zu können.
An den unmöglichsten Orten halten wir an. Sogleich wird von allen Fahrgästen erfasst, wer einsteigt, kurz die Sitzreihen durchgescannt und nach Bedarf der Platz gewechselt. Ist es eine Frau die einsteigt, muss sie neben einer anderen Frau Platz finden, ebenso wie die Männer nur neben Männer sitzen sollten. Steigt also eine Frau zu müssen sich insbesondere die Männer, die alleine sitzen, überlegen, ob sie sich irgendwo neben einen Mann setzten könnten, damit ihr Platz frei wird. Auch Urs. Mit der Zeit stellen wir aber fest, dass wir ignoriert werden, unsere Plätze sind offenbar fix. Entweder wir gelten als verheiratet oder wir sind einfach Touristen und damit ausserhalb jeder Kategorie.
Wir passen uns trotzdem etwas an. Anstatt uns mit Gespräch, Musik oder Buch zu beschäftigen tun wir es den Einheimischen gleich und beobachten das Treiben im und um den Bus.
Die Frau vor uns muss sich übergeben. Sofort wird reagiert, eine Plastiktüte wird durch die Sitzreihen gereicht, eine ältere Frau löst der Betroffenen das Kopftuch und das fest verknotete Haar und fächert ihr frische Luft zu. Kurz darauf geht die Tür neben uns auf. Noch bevor wir uns fragen können, ob an diesem schönen Aussichtspunkt gehalten wird, wirft der Busjunge die Plastiktüte weit hinaus in die Haselnussbäume und eine Petflasche gleich hintendrein.
Der Bus holpert zum Meer herunter wo die hier weidenden Kühe einen seltsamen Kontrast zum langgezogenen Sandstrand vor türkisblauen Meer bieten. Ein Fischer steigt zu und stellt seine Rute neben die Gepäckstücke die den engen Gang im Bus säumen. Hier stehen Tüten mit riesigen Brotlaiben und halben Hühnern, Kartons bebildert mit LCD-Bildschrim aber vollgefüllt mit klapprigen kleinen Kaffeetassen und ein Käfig wo ein Ziervogel ganz verwirrt auf der Stange sitzt. Hoffentlich steigt nicht noch eine Katzenbesitzerin zu.
Der vollgepackte Bus müht sich auf der kurvenreichen Küstenstrasse wieder hinauf in die steilen Sonnenhänge. Hoch über den schroffen Felsen bietet sich uns eine atemberaubende Aussicht auf das türkisfarbene Meer und die vielen kleinen Fischerbuchten, die nur von hier aus sichtbar sind.
Besorgt um unsere Weiterreise müssen wir nie sein. An der Endstation des ersten Busses in Cide begrüsst uns ein Mann mit den Worten „Inebolu, Inebolu?“ und nach einem ersten instinktiven „no thanks“ (was wir in Istanbul gelernt haben), müssen wir feststellen, dass wir hier gerade an den richtigen Busfahrer für die Weiterfahrt gelangt sind. Gleich hinter ihm steht eine alte Reisebekanntschaft. Die zwei deutschen Frauen mit denen wir uns am verlassenen Bahnhof in Istanbul nett unterhalten haben, sind genauso überrascht wie wir. Nach einem kurzen „was macht ihr denn hier?“ setzen wir uns in gut-türkischer Manier erst einmal zu Kaffee und Tschai hin. Es stellt sich heraus, dass wir gerade in die entgegengesetzte Richtung unterwegs sind. Weil sie von da kommen wo wir hinmüssen und vice versa können wir DOs und DONTs für die Weiterreise austauschen. Wohlwissend, dass dies wohl eine der wenigen Gelegenheiten war, bei einer Unterhaltung auch tatsächlich das fragen und sagen zu können, was wir wollen, fahren wir mit dem Bus weiter ostwärts. Kaffee und Tschai wird uns unterwegs immer wieder angeboten. Selten jedoch geht das Gespräch mit Buschauffeur und dessen Kollegen über ein paar Standardsätzte hinaus. Ist einmal klar gestellt, dass wir aus der Schweiz kommen, verlobt sind und die Türkei mögen, tritt meist ein beklemmendes Schweigen ein. Nach der Verabschiedung können wir jeweils beobachten, wie die Diskussion gleich anspringt. Offenbar bringen wir etwas Gesprächsstoff in die Gaststuben. Diese Kaffeepausen versüssen uns, im wahrsten Sinne des Wortes, die Weiterfahrt bis Sinop.